Über Monate hinweg drohte der Holding Abellio Deutschland und den Tochterunternehmen der Bankrott. Schon im Geschäftsjahr 2019 hatte das Unternehmen 33 Millionen Euro Verlust gemeldet, das Schuldenloch wurde danach noch größer. Das Unternehmen gehört zur niederländischen Staatsbahn Nederlandse Spoorwegen (NS). Diese forderte von den deutschen Bestellern der Verkehrsleistungen, sie sollten sich finanziell an der Sanierung von Abellio beteiligen und die Verkehrsverträge so ändern, dass keine Verluste mehr einträten. Als die deutschen Landesinstitutionen nicht schnell genug reagierten, führte die NS ihr deutsches Unternehmen in die Insolvenz.
Juristisch bedeutete das: Abellio führte seinen Betrieb voll weiter. Im Rahmen eines sogenannten Schutzschirmverfahrens versuchten Insolvenz-Experten, mit den Gläubigern und Auftraggebern des Unternehmens Lösungen zu finden. Abellio betrieb 52 Zugverbindungen in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen. Das Unternehmen stand auf Platz 2 der Eisenbahnunternehmen im Personen-Regionalverkehr nach dem zur staatlichen Deutschen Bahn gehörenden Unternehmen DB Regio. Deshalb wäre ein sofortiger Ausstieg von Abellio aus dem Markt eine Katastrophe für die Reisenden gewesen, die täglich diese Züge nutzten.
Abellio Baden-Württemberg wird SWEG
Problemlos gestaltete sich die Lösung in Baden-Württemberg. Im deutschen Südwesten befuhr der Zuganbieter Abellio Rail Baden-Württemberg (ABRB) Strecken im Stuttgarter Netz und im Neckartal. Das Land Baden-Württemberg unterstützte den Betrieber mit einer Millionenspritze bis zum Ende 2021 und sicherte so den Betrieb. Danach ging ABRB an die landeseigene Südwestdeutsche Landesverkehrs-GmbH (SWEG), die das Unternehmen für zunächst zwei Jahre übernimmt. Die Gläubigerversammlung und das Insolvenzgericht stimmten zu.
Warum war diese Lösung die beste? Das erklärte Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) in einer am 2. März 2022 veröffentlichten Antwort auf die Anfrage in der Landtags-Drucksache 17 / 1703. „Oberstes Ziel der Landesregierung war es, dass das Schutzschirm-/Insolvenzverfahren unter Beachtung der komplexen rechtlichen Rahmenbedingungen keine negativen Auswirkungen auf die Fahrgäste und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abellio Rail Baden-Württemberg GmbH hat.“ Das erklärte das Verkehrsministerium und unterstrich: „Diese Ziele wurden klar erreicht. Der zum 1. Januar 2022 stattgefundene Wechsel der Muttergesellschaft der Abellio Rail Baden-Württemberg GmbH von der Abellio Holding hin zur SWEG war im operativen Geschäft nicht zu bemerken. Somit war der Übergang für die Fahrgäste reibungslos. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erbringen weiterhin einen sehr zuverlässigen Dienst.“
Aus Sicht der Landesregierung war zu vermeiden, dass die Abellio Rail Baden- Württemberg zerschlagen wird: „Die dann notwendige kurzfristige, rechtlich komplexe und umfangreiche Notvergabe der Verkehre an ein anderes Eisenbahnverkehrsunternehmen oder gar an mehrere Unternehmen wäre hingegen nicht ohne negative Folgen für den Betrieb sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geblieben und darüber hinaus mit erheblichen Mehrkosten für das Land als Besteller verbunden gewesen.
Auch Werkstatt und Personale wurden gerettet
Anderen Unternehmen hätten zwar die der SFBW gehörenden Fahrzeuge beigestellt werden können, nicht jedoch die der Abellio Rail Baden-Württemberg GmbH gehörende Werkstatt, die für die verlässliche Abwicklung der zuvor von der Abellio Rail Baden-Württemberg GmbH gefahrenen Verkehre von zentraler Bedeutung ist. Neben den mit einem Betreiberwechsel üblicherweise verbundenen Transformationsproblemen, insbesondere der Übergang des Personals, wäre daher die Fahrzeugverfügbarkeit sehr kritisch gewesen.“
So gingen also die Personale und die Werkstatt in Pforzheim problemlos an die Landesgesellschaft über. Fahrzeuge und Betriebsmittel bleiben bei der bisherigen Gesellschaft, die sich jetzt SWEG Bahn Stuttgart GmbH (SBS) nennt. Die Marke „Abellio“ darf noch bis zur Jahresmitte weiter genutzt werden. Die neue-alte Gesellschaft erbringt ihre Verkehrsleistung auf der Grundlage eines neuen Verkehrsvertrags. Dabei handelt es sich um eine auf zwei Jahre begrenzte sogenannte Notmaßnahme nach EU-VO 1370/07. Dadurch können konform mit den EU-Regeln höhere Kostenerstattungen als bisher für die Zugverkehre gezahlt werden, so dass bis zum Auslaufen des Notvertrags keine erneuten Finanzprobleme auftauchen sollten.
Abellio Mitteldeutschland und WestfalenBahn fahren weiter
Auch für die Abellio Rail Mitteldeutschland GmbH mit Sitz in Halle (Saale) wurde eine Lösung gefunden. Der Vertrag zum stark defizitären Dieselnetz Sachsen-Anhalt (DISA) endet vorzeitig zum Dezember 2023. Bei der dann folgenden Neuausschreibung werde sich Abellio nicht beteiligen, hieß es von dem Unternehmen. Dabei soll der neue Betreiber zwingend auf bestehende Teile der Unternehmensstrukturen mit den vorhandenen Ressourcen wie Personal, Fahrzeuge, Werkstatt usw. zugreifen. Das Saale-Thüringen-Südharz-Netz (STS) wird hingegen bis zum Ende der Vertragslaufzeit im Dezember 2030 weiter von Abellio betrieben.
Hinter der Bezeichnung WestfalenBahn verbirgt sich ebenfalls Abellio. Hier gab es ein Happy End. Am 1. März 2022 erklärte Abellio: „Die WestfalenBahn GmbH hat das Schutzschirmverfahren erfolgreich beendet. Der in den vergangenen Monaten erarbeitete Sanierungsplan zur Sicherung der Verkehre wurde sowohl von der Gläubigerversammlung als auch vom zuständigen Amtsgericht Berlin-Charlottenburg bestätigt. Nach Ablauf einer finalen 14-tägigen Rechtsmittelfrist wurde der offizielle Bescheid zur Aufhebung des Verfahrens nun zugestellt. Damit ist die WestfalenBahn rechtskräftig aus dem Schutzschirm herausgetreten und kann ihren Geschäftsbetrieb als langfristig gesichertes Unternehmen fortführen.“
Ein gemeinsam mit den Gläubigern erarbeiteter Sanierungsplan sieht vor, dass die WestfalenBahn das Emsland- und Mittelland-Netz (EMIL) bis zum Ende der Verkehrsvertragslaufzeit im Jahr 2030 befährt. In dem über 600 Kilometer langen Emsland- und Mittelland-Netz mit den Linien RE 15, RE 60 und RE 70 verbindet die WestfalenBahn die Städte Emden, Rheine, Münster, Bielefeld, Minden, Hannover und Braunschweig. 20 Millionen Fahrgäste nutzen die WestfalenBahn in Niedersachen und Nordrhein-Westfalen pro Jahr. Dafür werden 28 Elektrotriebzüge eingesetzt, die in eigenen Werkstätten in Minden und Rheine instandgehalten werden.
„Alle 300 Arbeitsplätze konnten im Rahmen des Schutzschirmverfahrens umfassend erhalten werden“, heißt es bei dem Unternehmen. „Neben der WestfalenBahn GmbH konnte auch die PTS GmbH, Systemdienstleister für Sicherheit und Sauberkeit im Schienenpersonennahverkehr mit Sitz in Neuss, das Schutzschirmverfahren erfolgreich beenden.“
Startprobleme in Nordrhein-Westfalen
Unschön und holprig war hingegen das Ende für die Abellio Rail mit Sitz in Hagen in Nordrhein-Westfalen (NRW). In diesem Bundesland betrieb Abellio fünf Verkehrsverträge in NRW, unter anderem die beiden RRX-Linien RE1 von Aachen nach Hamm und RE11 von Düsseldorf nach Kassel, die Linie RE 19 (Rhein-IJssel-Express) von Düsseldorf über Wesel nach Arnhem und Bocholt, außerdem das S-Bahn-Netz Rhein-Ruhr. Jeder sechste Zugkilometer entfiel in NRW auf Abellio.
Wichtigster öffentlicher Besteller war der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR). Für ihn erbrachte Abellio bisher 80 Prozent seiner Leistungen. Chef des VRR ist Ronald
Lünser. Dieser leitete bis 2018 die NRW-Aktivitäten von Abellio, war also zumindest mitverantwortlich für die zu optimistischen Preiskalkulationen, mit denen Abellio ins finanzielle Straucheln geriet. Jetzt war es ausgerechnet Lünser, der im Namen des VRR besonders kompromisslos bei den Verhandlungen mit Abellio vorging. Beobachter spekulierten: Wollte damit Lünser vermeiden, dass man ihm später eine Bevorzugung des alten Arbeitgebers vorwirft?
Jedenfalls war es mit Abellio in Nordrhein-Westfalen Ende Januar 2022 abrupt zu Ende. Im Rahmen einer Notvergabe werden jetzt die Verkehrsleistungen von den drei Unternehmen DB Regio AG, National Express und VIAS erbracht, für zwei Jahre. Bei der Übergabe der Verkehre fielen eine Reihe von Zügen tagelang aus, auch der Ersatzverkehr mit Bussen klappte nicht reibungslos. Der Zweckverband VRR übernahm die Werkstätten. Die Aufgabenträger bereiten jetzt die Neuausschreibung der Verkehrsleistung vor.
Ausschreibungs-Verträge müssen flexibler werden
Warum kam es überhaupt zu den Finanzproblemen bei Abellio? Manche Beobachter mutmaßen, Abellio habe manche Ausschreibungen mit Dumpingpreisen gewonnen, das traurige Ende sei also teilweise selbstverschuldet. Aber Tatsache ist auch, dass in der letzten Zeit in Deutschland alle Bahnunternehmen im regionalen Personenverkehr Finanzprobleme haben. Betriebsverträge werden zumeist über 15 Jahre unterzeichnet. Das gibt Stabilität. Doch in letzter Zeit mussten Abellio und andere Bahnunternehmen häufig Strafgelder wegen Verspätungen zahlen. Doch dafür waren Baustellen des Infrastruktur-Unternehmens DB Netz verantwortlich, nicht die Zugbetreiber. Und auch der Ausgang von Tarifverträgen, der erhebliche Mehrkosten mit sich brachte, war zuvor nicht absehbar.
Am 23. September 2020 berichtete das „Handelsblatt“: „Die Margen im Schienenpersonennahverkehr sind sehr gering. Nach den letzten verfügbaren Zahlen der Bundesnetzagentur lag 2018 der Gewinn pro erlöstem Euro im Durchschnitt nur bei 0,1 Prozent. Die Jahre zuvor waren die Umsatzrenditen negativ. Einzig Transdev scheint von seiner Bussparte zu profitieren. Ob mit dem Bahnbetrieb Geld verdient wird, wollte das Unternehmen auf Anfrage nicht sagen.“
Änderungen an den Ausschreibungsregeln in Deutschlands Ländern für Regionalverkehre sind also unausweichlich. Die Dachorganisation der Besteller der Verkehre, der Bundesverband SchienenNahverkehr, hat deshalb einen Personalkosten-Index erstellt. Damit soll es in Zukunft möglich sein, auch laufende Verkehrsverträge an höhere Personalkosten anzupassen. Jetzt gilt es noch, auch die Strafzahlungen wegen Verspätungen flexibler zu gestalten. Wenn Baustellen oder schlechtes Wetter der Grund für Verspätungen ist, sollten es nicht die Bahnunternehmen sein, die deshalb Mehrkosten haben.
Hermann Schmidtendorf, Chefredakteur