Bereits 2019 hatten die beteiligten Bahnen intern die Fusion unter dem Namen „Operation Green Speed“ vorbereitet. Treibende Kraft war der scheidende SNCF-Präsident Guillaume Pepy. Aber auch seine belgische Kollegin, SNCB-Präsidentin Sophie Dutordoir, war dafür. Belgien will sich zukünftig auf seine Rolle als internationales Drehkreuz für grenzüberschreitenden Hochgeschwindigkeits- und Fernverkehr konzentrieren. Deshalb überlassen die Belgier jetzt den Franzosen den Vortritt bei den Zugunternehmen.
Bislang wurden bei Thalys 60 Prozent der Anteile durch SNCF und 40 Prozent durch SNCB gehalten. Im Einsatz sind zehn Einheiten des Thalys PBA (Paris–Brüssel–Amsterdam) und 17 Einheiten des Thalys PBKA (Paris–Brüssel–Köln–Amsterdam). Technisch basieren die Züge auf der bewährten TGV-Technik von Alstom. Sie sind jedoch mit Zugsicherungssystemen für den Verkehr in mehreren Ländern ausgestattet und im Fall der Thalys PBKA zusätzlich zur Fahrt unter 25-Kilovolt-50-Hertz-Wechselspannung auch für die Fahrt im deutschen Netz mit 15-Kilovolt-16,7-Hertz-Wechselspannung ausgerüstet.
Die SNCF wird 55,75 Prozent der neuen Gesellschaft halten. Patina Rail, ein Konsortium aus der Caisse de dépôt du Québec (CDPQ) und dem britischen Investmentfonds Hermes GPE bei Eurostar, erhält 25,7 Prozent, die belgische Bahn SNCB die restlichen 18,5 Prozent. In der Eurostar-Gesellschaft war das Gesellschaftskapital seit 2015 wie folgt verteilt: 55 Prozent SNCF, 30 Prozent CDPQ, 10 Prozent Hermes, 5 Prozent SNCB.
Auch die Eurostar-Züge basieren auf TGV-Technik, sind aber unter anderem in Höhe und Breite an das kleinere Lichtraumprofil auf den britischen Strecken angepasst (die Breite des Eurostar beträgt nur 2,81 Meter im Vergleich zu 2,904 Metern beim TGV). Auch muss der Eurostar besonders scharfe Sicherheitsbedingungen für die Passage des Kanaltunnels erfüllen.
Durch die Pandemie waren sowohl beim Eurostar als auch bei Thalys die Passagierzahlen drastisch eingebrochen. Thalys benötigte sogar einen Bankkredit in Höhe von 120 Millionen Euro, um den Betrieb fortführen zu können. Durch die Fusion beider Unternehmen sollen optimalere Fahrpläne erstellt und Synergien gehoben werden.
Der neue Schwung kommt womöglich zur rechten Zeit, denn schon droht Konkurrenz. Am 21. März 2022 bestätigte der Betreiber des Kanaltunnels, Getlink: Die spanische Staatsbahn Renfe prüft den Einsatz von Zügen auf der Verbindung zwischen dem europäischen Festland, sprich Frankreich, und Großbritannien. Eine entsprechende Anfrage ist bei Getlink eingegangen.
Getlink sicherte dem Vorhaben der Renfe nach eigenen Angaben seine Unterstützung zu. Solche Projekte könnten dem Verkehr durch den Kanaltunnel einen neuen Schub geben, meint der Betreiber des Kanaltunnels. Urlauber und andere Reisende hätten dann ähnlich wie beim Flugzeug die Wahl zwischen verschiedenen Anbietern mit eigenen Tarifen und Angeboten.
Angesichts der hohen Kosten könnte Getlink mit Renfe die Gründung einer Gesellschaft für die Anschaffung und den Verleih neuer Züge avisieren. Auf jeden Fall werde Getlink zu einer solchen Gesellschaft sein Fachwissen beisteuern. Doch erst einmal sind es nur Sondierungen und Pläne. Bis zu einer eventuellen Betriebsaufnahme, so Renfe, könnten durchaus zehn Jahre vergehen.
Hermann Schmidtendorf, Chefredakteur