Vorsicht bissig! Neue ODEG-Züge schlucken Smartphones

Vorsicht bissig! Neue ODEG-Züge schlucken Smartphones

Vorsicht bissig! Neue ODEG-Züge schlucken Smartphones

ODEG Desiro HC - RE 1 Magdeburg-Berlin-Frankfurt/Oder
Eine Redensart besagt: Kinder schaffen es, alles kaputt zu kriegen. Doch sind Erwachsene so viel besser? Im Raum Berlin klagen derzeit Zugreisende über eine sogenannte „Handy-Falle“. Doch für das so bezeichnete Geschehen sind sie alleine selber verantwortlich. Welcher halbwegs mit Vernunft gesegnete Mensch legt schon sein Mobiltelefon auf einen Klappsitz? Und wundert sich, dass dann dieser Klappsitz tut, wozu er geschaffen wurde – er klappt zu und „schluckt“ bei dieser Bewegung das Handy?

Mit Beginn des neuen Winter-Fahrplans am 11. Dezember 2022 übernahm die in Parchim und Berlin ansässige Ostdeutsche Eisenbahn GmbH ODEG den Betrieb auf der Regionallinie RE1 Magdeburg – Berlin – Frankfurt/Oder. Zum Einsatz kommen 29 neue Doppelstockzüge der Baureihe 3462 von Siemens Mobility vom Typ Desiro HC. Sie haben 390 Sitzplätze in der vierteiligen Version und 637 Sitzplätze in der sechsteiligen Version.

Außerdem sollen auf den RB 33, 37 und 51 acht neu beschaffte Coradia Lint 54-Züge von Alstom der Baureihe 1622 zum Einsatz kommen, die über 140 Sitzplätze verfügen. Ihre Anlieferung verzögert sich jedoch bis mindestens Februar 2023. Um diese Züge in Top-Zustand zu halten, wurde in der Werkstatt in Eberswalde kräftig investiert. Unter anderem wurde eine Unterflur-Drehmaschine installiert. Damit können Zugradsätze profiliert werden, ohne dass die Räder aus dem Zug ausgebaut werden müssen. Das spart erheblich Zeit.

Die Desiro HC-Züge sind mit einer geräumigen Abstellfläche für Fahrräder ausgestattet. Dort sind an der Wand Klappsitze angebracht. Auch bei den behindertengerechten Universaltoiletten sind drei Klappsitze montiert. Die Sitze sind am Boden des Waggons befestigt, ein Metallkasten beherbergt die Befestigung. Und diese Sitze mit ihren Befestigungen sind derzeit offenbar Schauplatz eines bizarren Dramas.

Das Drama spielt sich vielleicht so ab: Ich fahre mit dem Zug zur Arbeit oder zur Ausbildungsstätte. Wie üblich starre ich hypnotisiert auf mein Smartphone. Ich muss ja meinen Freunden unbedingt noch einen Dank tippen für das schöne Katzenfoto und das lustige TikTok-Video! Aber OH! Der Zug bremst ja schon, ich bin am Ziel und muss aussteigen! OH, ich muss ja noch meine Jacke anziehen, die ich eben ausgezogen hatte! OH, ich brauche dazu zwei Hände, aber ich habe ja das Smartphone in der Hand! Kein Problem, das Telefon lege ich auf den Klappsitz! OH, der Klappsitz klappt ja zu! OH! Jetzt ist das Handy weggerutscht, wo ist es nur? OH, schon fährt der Zug weiter! Ich komme zu spät zur Arbeit! Wie kann man nur so einen blöden Zug bauen!

Zack! Und das Handy ist weg

Raubtiere füttern verboten! Klappsitze im neuen Desiro-Zug der ODEG. 3 Fotos des ODEG-Desiro: Autor Hermann Schmidtendorf

Der Verfasser dieser Zeilen gesteht: Er hat Null Verständnis für diese Reisenden. Da wird quer durch verschiedene Medien wortreich beklagt, dass das Telefongerät durch den Spalt zwischen dem hochklappenden Klappsitz und der hinteren Lehne rutscht und dann in einen geschlossenen Metallkasten fällt. Dieser Kasten ist als Schutz der Sitzbefestigung gedacht und deshalb dagegen gesichert, dass Unbefugte mit der Hand in das Innere gelangen. Über 20 Smartphones ruhen derzeit in dieser „Telefonfalle“, heißt es. Drei Geräte konnten Mitarbeiter*innen der ODEG in der Zwischenzeit aus ihrem Gefängnis befreien. Bis Ende März sollen unter den Sitzen Bleche oder Stoffelemente angebracht werden, welche wegrutschende Kleinteile einfangen können und sie dann leichter wieder freigeben. Bis dahin sollen ein oder zwei Mitarbeiter*innen der ODEG als „mobile Einsatzteams“ abgestellt werden, um telefonsüchtigen Reisenden schneller ihren geliebten Kommunikations-Apparat zurückgeben zu können.

Was für ein Aufwand nur deshalb, weil sich Reisende offenbar völlig gedankenlos verhalten! Warum stecken sie ihr Smartphone nicht in ihre Tasche, wenn sie die Hände frei haben wollen? „Häufig sind Klappsitze so konstruiert, dass sie selbsttätig hochklappen, wenn eine sitzende Person aufsteht. Dies kann durch ein Gewicht an der Hinterkante (bei seitlich angebrachten Drehpunkten) oder einen Federmechanismus bewirkt werden.“ Das erklärt Wikipedia. OH, ein Federmechanismus! Der kann nur durch ein starkes Gewicht wie einen darauf sitzenden Menschen außer Kraft gesetzt werden. Ein Smartphone wiegt durchschnittlich 150 Gramm. Ist es so schwer verständlich, dass ein solches Leichtgewicht keinen Widerstand gegen eine Klappfeder leisten kann?

Hoher Komfort des Desiro HC

Doch der neue Desiro HC der ODEG besteht gottlob nicht nur aus Klappsitzen. Bei Testfahrten zwischen Berlin und Magdeburg machten wir nur positive Beobachtungen. Die Einstiegstüren sind breit, öffnen sich schnell und leicht. Der Einstiegsbereich ist geräumig, ebenso der Bereich des Treppen-Aufstiegs. Die Sitze sind bequem, zu loben sind die nach vorne ragenden Seitenstützen im Kopfteil und die den Rücken stützende Auswölbung des Sitzes. Die Beleuchtung ist angenehm hell, aber nicht grell. Das Fahrgeräusch ist absolut ruhig und leise. Alle Elemente sind gerundet. Das sieht gut aus und gibt den Reisenden Sicherheit.

Der untere Bereich ist barrierefrei, positiv fallen die Fahrrad-Stellplätze und Plätze für Gepäck auf. Eher symbolisch ist die schmale Gepäckablage über den Sitzen im oberen Zugteil. Aber das ist bei vergleichbaren Zügen anderer Hersteller nicht anders, es ist der optimalen Nutzung des Raumprofils für bequemes Reisen geschuldet. Abzuwarten ist, ob die gut lesbaren Anzeigen des elektronischen Informationssystems im Sommer vielleicht unerwünschte Spiegelungen bei Sonneneinfall aufweisen.

Jährlich 14,4 Millionen Zugkilometer für DB Regio, 13,3 Millionen Zugkilometer für die ODEG

Der untere Passagierbereich des Desiro HC der ODEG.

Die ODEG erläutert ihre neuen Aufgaben wie folgt: „Mit der Inbetriebnahme von sechs neuen Linien im Elbe-Spree-Netz mussten wir die Infrastruktur für die neuen Züge aufbauen, Verkaufsstellen und Fahrkartenautomaten installieren. Auf dem Netz Elbe-Spree gewann die ODEG das erste und vierte Los von vier Teilen der europaweit größten Ausschreibung für den SPNV der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt.“ DB Regio konnte die Lose zwei und drei gewinnen. Nur folgerichtig suchte die ODEG mehr als 200 Fahrzeugführer*innen und Servicemitarbeiter im Nahverkehr.

Auf der RE1-Strecke zwischen Magdeburg und Frankfurt (Oder) über Berlin verkehren die Desiro-Züge in den Hauptverkehrszeiten bis zu dreimal pro Stunde. „Ein echter Sightseeing-Zug ist der RE8, der im Zweistundentakt zwischen der Ostseeperle Wismar, Wittenberge und dem Flughafen Berlin-Brandenburg BER verkehrt. Am Wochenende und während der Fahrt können die Fahrgäste im komplett modernisierten Stadler KISS mit Catering und Platzangebot, neu gestalteten Sanitäranlagen und ständigem Zugang zum Internet für gute Unterhaltung sorgen.“

Insgesamt gewann in der genannten Region DB Regio den Betrieb auf 10 Regionallinien und die ODEG den Betrieb auf 6 Linien. Das bedeutet jährlich 14,4 Millionen Zugkilometer für DB Regio und 13,3 Millionen Zugkilometer für die ODEG.

Zum Thema „Handy-Falle“ noch eine Reflexion. 2012 nahm die Ukrainische Staatsbahn Укрзалізниця  – Ukrzaliznytsja –  die ersten Intercity+-Schnellzüge von Hyundai in den Betrieb. Damals produzierte sie einen Werbefilm, der zugleich auch praktische Hinweise enthielt: Wie öffne ich die Türen? Was bedeuten die Aufschriften an den Zügen? Wo finde ich das Bordbistro? Vielleicht sollten die ukrainischen Filmemacher auch ein Video für die ODEG-Reisenden produzieren, dass dann von morgens  bis abends an Bord der Züge gezeigt wird? Das Thema: Wie benutze ich korrekt einen Klappsitz…?

Hermann Schmidtendorf, Chefredakteur 

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