Auf die Kunde vom Einmarsch russischer Militärkräfte in die Ukraine bildeten sich auf dem Bahnhof von Харків – Charkiv – lange Schlangen von Einwohner*innen, die sich vor drohenden Kriegshandlungen in Sicherheit bringen wollten. Die Stadt liegt nur 80 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, sie könnte eines der Ziele der russischen Invasion sein. Das berichtete auf Twitter die für The Guardian, BBC und Der Spiegel arbeitende Journalistin Sara Cincurova.
Um 5 Uhr morgens hatten russische Militärkräfte an mehreren Fronten die Ukraine angegriffen, der ukrainische Präsident rief das Kriegsrecht aus. Danach wurden Züge nach Charkiv suspendiert. „Der Evakuierungszug Intercity + aus Charkiv ist nach 13 Uhr geplant, danach werden Hochgeschwindigkeitszüge vorübergehend eingeschränkt, Fernzüge und Regionalexpresszüge werden fortgesetzt.“ Das berichtete die Staatsbahn am 25. Februar auf ihrer Webseite. „Intersiti +“ , auf Kyrillisch Інтерсіті+, bezeichnet die Zuggattung, die gerade erst ihr zehnjähriges Jubiläum gefeiert hatte.
Zugverkehr mit Charkiv ist gestoppt
Sofort mit dem Beginn der Kriegshandlungen erklärte die Ukrainische Eisenbahn, sie werde die Stadtbewohner in der Nähe der Demarkationslinie evakuieren: „Am 24. Februar um 10.00 Uhr verkehren die meisten Personenzüge, alle Züge nach Kiew und in die Hauptstadt sowie westliche Züge planmäßig. Die Ostzüge fahren weiterhin mit sicherer Geschwindigkeit, wobei Verlangsamungen und Stopps aus Sicherheitsgründen in der Nähe von geschützten Bahnhöfen möglich sind. Dies gilt für die Richtung von Mariupol über den Dnjepr.“
Diese Einschätzung wiederholte die Staatsbahn am 25. Februar, sie sprach von zu 80 Prozent weiterhin verkehrenden Zügen: „Züge verlangsamen sich in der Nähe von Luftschutzbunkern und warten auf ein sicheres “Fenster” für die Reise. Eisenbahner tun alles, damit sich die Menschen im Land bewegen und gefährliche Gebiete verlassen können.“
Am Nachmittag gab es zwei Evakuierungszüge aus Svatovo, Rubižne und Lysyčansk, je zwei von Kramatorsk und Mariupol und einen von Kostjantynivka und Odessa. Damit wurden Zivilpersonen in der Nähe der von russischen Separatisten beherrschten selbsternannten „Volksrepubliken“ Doneck und Luhansk aus der Schusslinie gebracht. Dazu vermeldete die Staatsbahn: „Aus Sicherheitsgründen werden die genaue Abfahrts- und Zielzeit nicht bekannt gegeben. Die Passagiere werden gebeten, ruhig zu bleiben und den offiziellen Ankündigungen im Telegram-Kanal von Ukrzaliznycja an den Bahnhöfen zu folgen und 30 Minuten vor der geplanten Abfahrt zum Einsteigen einzutreffen.“
Evakuierungszüge mit Notlicht – keine „Girlanden-Beleuchtung“
Am Abend des 25. Februar wurden auch Evakuierungszüge von der Hauptstadt Kiev in westliche Richtung eingerichtet – nach Rachiv, Užhorod, Truskavec (mit fünf zusätzlichen Wagen), Worochta, Kovel, Černivci und Lviv. Man erahnt den Ernst der Lage bei diesen Instruktionen der Staatsbahn an ihre Reisenden: „Aufgrund der Umstände sind Zugverspätungen möglich, aber es gibt genug Wagen für die sichere Evakuierung von etwa 10.000 Menschen bis zum Ende des Tages. Der Einstieg erfolgt in einer Warteschlange, bevorzugt werden traditionell Kinder, Frauen und Personen mit eingeschränkter Mobilität. Befolgen Sie beim Einsteigen bitte die Reihenfolge und geben Sie während der Fahrt Ihren Standort nicht preis. Wundern Sie sich auch nicht über die Notbeleuchtung in den Wagen: Je weniger der Zug wie eine Girlande aussieht, desto sicherer ist die Fahrt.“
Elektrotraktion wird eingeschränkt – Andrang auf Züge nach Polen
Das ukrainische Eisenbahnnetz ist zu etwa 45 Prozent elektrifiziert. Doch angesichts der Kriegshandlungen hat die Ukrainische Eisenbahn eine Reihe von S-Bahn-Verbindungen und Vorortzügen im gesamten Land gestrichen. So werden in der Region Lviv – Lemberg
elektrische Züge der Relation Lviv – Lavočne – Čop ab dem 25. Februar ausgesetzt, ab dem 26. Februar betrifft das auch die Gegenrichtung: „Ukrzaliznycja tut alles, um in den Regionen, in denen es die Situation zulässt, weiterhin elektrische Züge zu betreiben. Die Fahrgäste werden gebeten, ruhig zu bleiben, Ausweisdokumente mit sich zu führen, auf mögliche Kontrollen vorbereitet zu sein und den Durchsagen an Bahnhöfen und Bahnhöfen aufmerksam zu lauschen.“
Das Nachbarland Moldawien stellte am 25. Februar die Bahnverbindung mit der Ukraine vorübergehend ein. Stattdessen nimmt Polen ab sofort Reisende aus der Ukraine von der Pflicht zur Quarantäne aus, auch wenn sie keinen COVID-19-Test haben. Allerdings können derzeit ukrainische Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren aufgrund der allgemeinen Mobilisierung die Staatsgrenze nicht passieren.
Erheblich angestiegen ist dennoch der Andrang auf Züge von Lviv nach Polen. Deshalb setzt die Ukrainische Eisenbahn bis auf Widerruf zusätzliche Züge von Lviv zur Staatsgrenze bei Medyka/Polen ein. Am 25. Februar gab es fünf zusätzliche Züge, realisiert durch Rollmaterial des Nahverkehrs.
Hermann Schmidtendorf, Chefredakteur