Rudiš war prominenter Gast an Bord des Zuges. Seit 2016 verkehrt der Zug an den Wochenenden zwischen der deutschen Bundeshauptstadt Berlin und der niederschlesischen Metropole Wrocław (Breslau). Zunächst sollte das nur ein besonderes Angebot für Besuche Wrocławs sein, als die Stadt zur europäischen Kulturmetropole ausgerufen wurde. Doch der Zug war so erfolgreich, dass er bis heute fährt. Die Finanzierung der günstigen Ticketpreise – 38 Euro hin und zurück – wird durch die Länder Berlin und Brandenburg gesichert. Der Zug wird durch DB Regio Nordost betrieben, auf polnischer Seite sind die Niederschlesischen Eisenbahnen KD Partner.
Die günstigen Fahrkartenpreise sollen natürlich regulären, täglich nach Fahrplan verkehrenden Zügen keine Reisenden wegnehmen. Deshalb gilt das sogenannte Kabotageverbot. Das bedeutet: Auf der Fahrt nach Wrocław darf in Berlin, Cottbus und Forst auf deutscher Seite sowie in Żary (Sorau), Żagań (Sagan) und Legnica (Liegnitz) auf polnischer Seite nur eingestiegen werden. Auf dem Rückweg sind die Halte nur zum Aussteigen bestimmt.
Jaroslav Rudiš: Bahn-Literatur für den „Film im Kopf“
Mehrfach preisgekrönt wurde der Kulturzug – der polnische Begriff heißt übersetzt „Zug zur Kultur“ – wegen seiner außergewöhnlichen Angebote während der Fahrt. Es gibt Konzerte, Dichterlesungen, Diskussionen, Polnisch-Unterricht, eine Buch-Ausleihe – und immer steht der europäische Gedanke im Mittelpunkt. Das zeigte sich auch, als der Autor Jaroslav Rudiš aus seiner bei Piper erschienenen „Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen“ las. Spannende Reiseerlebnisse geben Anlass zu interessanten Sprachbildern und philosophischen Grübeleien. Doch die Sprache bleibt wie auch der Autor in seinem Auftritt unprätentiös. Sie gibt den Lesenden und Hörenden Raum für eigene Phantasie, für den „Film im Kopf“.
Das beeindruckt Literatur- und Bahn-Beflissene so sehr, dass sich Rudiš Europa-weit eine treue Fangemeinde erschrieb. Im Kulturzug fuhren sogar ein Österreicher aus Sankt Pölten und seine Lebensgefährtin mit – nur, um den „schreibenden Zug-Reisenden“ Jaroslav – er selber nennt seinesgleichen „Eisenbahn-Menschen“ – live zu erleben.
„Das beste Schnitzel in Europa gibt es im slowenischen Zug von Wien nach Ljubljana, serviert von Herrn Popovič“, ist sich Rudiš sicher. Also präsentierte der österreichische Literaturfreund Rudiš eines seiner Bücher zum Signieren, in dem vorher schon der offensichtlich begnadete Speisewagen-Koch Popovič seine Unterschrift hinterlegt hatte. Phantastisch! Ein Zug und sein Speisewagen-Angebot werden wahrgenommen, weil ein Schriftsteller dies empfiehlt. Jaroslav Rudiš ist führwahr ein Glücksfall für Europas Bahnen, ein perfekter Botschafter des Bahnfahrens…
Und Rudiš möchte verstanden werden. Deshalb nahm er im Kulturzug seine polnische Übersetzerin Małgorzata Gralińska mit, um ihr das „Bahn-Gefühl“ nahezubringen und die Übersetzung der „Gebrauchsanweisung fürs Bahnreisen“ ins Polnische zu besprechen.
Sonderhalt in Halbe
Abweichend vom normalen Fahrplan hielt der Kulturzug dieses Mal auch am Bahnhof der Gemeinde Halbe. Hier stießen Dörte Ziemer und Karen Ascher zu den Reisegästen. Selbstbewusst und charmant berichteten die beiden Damen derart enthusiastisch von ihrer Gemeinde, dass sich beim Publikum im Zug ein schlechtes Gewissen einschlich: Wie peinlich! Halbe ist so schön, doch ich war noch nicht da…
Tatsächlich hat Halbe gleichermaßen für Freunde der Eisenbahn und für Enthusiasten der Natur einiges zu bieten. Zu nennen ist vor allem der 1865 erbaute denkmalgeschützte Kaiserbahnhof. Die preußischen Könige und Kaiser machten hier Halt, um in der Umgebung auf repräsentative Hofjagden zu gehen. Es gibt ausgedehnte Waldbestände, ein Schloss mit angeschlossener Parkanlage.
Alle Vorträge waren im gesamten Zug zu hören. Dazu bringt auf jeder Fahrt das Organisationsteam des Kulturzugs um Ewa Stróżczyńska-Wille und Oliver Spatz eine speziell konzipierte mobile Ton-Übertragungsanlage mit. Sprache und Musik werden mit Mikrophonen aufgenommen, die das Signal drahtlos an Kopfhörer übertragen, welche die Mitreisenden während der Fahrt aufsetzen können. Es gibt einen Kanal auf Polnisch und einen auf Deutsch, denn das Gesagte wird übersetzt. So werden auch Reisende in der hintersten Ecke des Zuges voll in das Kulturprogramm eingebunden, zweisprachig.
Berlin-Brandenburg-Wrocław: Mehr Bahnverbindungen schaffen
Dieses Mal war das Programm noch reichhaltiger als sonst üblich. Unter dem Motto „Lebenskunst“ gab es die Vorstellung des „Kulturland Brandenburg 2022“. Präsentiert wurde das Buch „Speisen & Reisen“. Regionale Initiativen brachten Geschenk-Körbe mit örtlichen kulinarischen Spezialitäten mit. Und der Verkehrsminister Brandenburgs Guido Beermann diskutierte mit Direktor Dr. Maciej Zathey vom Institut für Territoriale Entwicklung in Wrocław über das Thema „Regionen machen Europa“.
Zathey lobte das bis Ende August in deutschen Regionalzügen geltende 9-Euro-Ticket. Dieses einmalige Angebot, einen kompletten Monat ohne weitere Kosten quer durch Deutschland per Bahn fahren zu dürfen, werde auch von Polinnen und Polen eifrig genutzt, um das Nachbarland zu entdecken. Minister Beermann hörte das mit einem „lachenden und einem weinenden Ohr“. Er gab zu bedenken, dass es sich bei diesem Zugticket um eine sozialpolitische Maßnahme der Bundesregierung handle. Damit sollen Preiserhöhungen in anderen Bereichen für die deutsche Bevölkerung abgefedert werden.
Für die dauerhafte Förderung des Bahnreisens – auch im grenzüberschreitenden Verkehr – seien weitergehende Schritte erforderlich, die aber auch finanziert werden müssten. Einig waren sich die Diskutanten, dass sich die Bahninfrastruktur und das Zug-Angebot weiter verbessern sollten, damit Europa auch per Bahn zusammenwachsen könne.
Informationen zum Kulturzug gibt es unter diesen Links: vbb.de/kulturzug sowie bahn.de/kulturzug.
Hermann Schmidtendorf, Chefredakteur